Lost in Translation

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Ethische Grundsätze und kolonialhistorisches Verantwortungsbewußtsein in deutschen Museen

Am 23. Juli 2013 antwortete der Berliner Senat ausführlich auf eine Kleine Anfrage der Partei Bündnis 90 / Die Grünen zur „Postkolonialen Auseinandersetzung mit dem Humboldt-Forum“ (Drucksache 17/12360). In der Stellungnahme gab die Landesregierung ihrer Überzeugung Ausdruck, „dass die Ethischen Richtlinien für Museen von ICOM die Grundlage für die Arbeit der Museen in Berlin bilden und diese sich ihrer historischen und politischen Verantwortung beim Umgang mit Erwerbungen aus der Kolonialzeit bewusst sind.“ Ein kritischer Blick auf internationale Richtlinien und museale  Praxis in Deutschland offenbart hingegen nicht nur die Defizite der hiesigen Museen und Sammlungen bzgl. des postulierten Verantwortungsbewusstseins. Er lässt auch Denkweisen, Praktiken und Strukturen erkennen, die das Koloniale noch längst nicht überwunden haben. 

Der ICOM Code of Ethics for Museums (Code de déontologie / Código de Deontologia) von 2004

Der ICOM Code of Ethics for Museums wurde 1986 vom International Council of Museums (ICOM) beschlossen und 2004 grundlegend überarbeitet. Er hält die Werte und Prinzipien der internationalen Museumsgemeinschaft fest, benennt die Minimalstandards professionellen Handelns für Museen und ist für alle Mitgliedsmuseen von ICOM verbindlich – auch wenn es keine rechtliche Handhabe bei Verstößen gegen diese ethischen Richtlinien gibt. Das Vorwort zur 2011 von ICOM herausgegebenen Checklist on Ethics of Cultural Property Ownership macht deutlich, dass die internationalen Museumsrichtlinien nicht nur mit Hinsicht auf den Kultur- und Kunstraub in der Gegenwart, sondern auch mit Blick auf die massive Ausplünderung der Welt während der Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus von größter Relevanz sind:

Nationally and internationally, questions concerning ethics in the museum world have grown in importance during recent years. Worldwide interest has sharpened, for example, around topics related to the impact of colonisation on subjects peoples and collections built through the expansion of empires historically, repatriation claims by indigenous peoples, looted art, trophy art, and illicit trafficking (including as a result of armed conflicts).

Besondere Aufmerksamkeit schenkt der ICOM Code of Ethics dabei zwei Kategorien von „Objekten“. Das sind zum einen die „sensitive materials“ – womit insbesondere „human remains and material of sacred significance“ gemeint sind – sowie zweitens „material of questionable origin or lacking provenance“. Dazu heißt es im Teil 4:

4.3. Exhibition of Sensitive Materials

Human remains and materials of sacred significance must be displayed in a manner consistent with professional standards and, where known, taking into account the interests and beliefs of members of the community, ethnic or religious groups from whom the objects originated. They must be presented with great tact and respect for the feelings of human dignity held by all peoples.

4.4. Removal from Public Display

Requests for removal from public display of human remains and materials of sacred significance must be addressed expeditiously with respect and sensitivity. Requests for the return of such materials should be addressed similiarly. Museum policies should clearly define the process of responding to such requests.

4.5. Display of Unprovenanced Material

Museums should avoid displaying or otherwise using material of questionable origin or lacking provenance. They should be aware that such displays or usage can be seen to condone and contribute to the illicit trade in cultural property.

Bezüglich der besonderen Kategorie von „sensitive materials“ sind die Mitgliedsmuseen von ICOM demnach zur Entfernung bzw. Rückgabe von Exponaten aus ihren Sammlungen verpflichtet, sofern die Herkunftsgesellschaften dies wünschen. Die Museen sollen auf diese Wünsche nach eindeutigen, klar definierten Regeln eingehen. Außerdem werden sie aufgefordert, die Zurschaustellung und Beforschung von Objekten fragwürdigen Ursprungs oder ungeklärter Provenienz zu vermeiden.

Im hier ebenfalls relevanten Teil 6 heißt es zudem:

6.1. Co-operation

Museums should promote the sharing of knowledge, documentation and collections with museums and cultural organisations in the countries and communities of origin. The possibility of developing partnerships with museums in countries or areas that have lost a significant part of their heritage should be explored.

6.2. Return of Cultural Property

Museums should be prepared to initiate dialogues for the return of cultural property to a country or people of origin. This should be undertaken in an impartial manner, based upon scientific, professional and humanitarian principles as well as applicable local, national and international legislation, in preference to action at a governmental or political level.

Hier werden die Mitgliedsmuseen aufgefordert, die Möglichkeit zum Aufbau von Museumspartnerschaften mit den Herkunftsländern und -gemeinschaften aktiv zu erkunden („the possibility … should be explored“) und die gemeinsame Nutzung von Wissen, Dokumenten und Sammlungsbeständen zu fördern („should promote the sharing of“). Darüber hinaus wird von den Mitgliedsmuseen die Bereitschaft verlangt, von sich aus mit den Herkunftsländern oder -völkern in Verhandlungen über Rückgaben von kulturellem Eigentum zu treten („to initiate dialogues for the return of cultural property“).

Die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker von 2007

Auf politischer Ebene wurden die ICOM-Richtlinien von 2004 im Jahre 2007 durch die auch von Deutschland unterzeichnete Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker flankiert und zu Gunsten der Herkunftsgesellschaften sogar noch verschärft. In ihr wird von den Staaten nicht nur ein genereller Schutz indigenen Kulturerbes verlangt. Im Artikel 11.2. werden die Staaten auch zu angemessenen Entschädigungsleistungen für unrechtmäßig angeeignetes Kulturgut bzw. zu dessen Rückgabe verpflichtet :

Artikel 11

1. Indigene Völker haben das Recht, ihre kulturellen Traditionen und Bräuche zu pflegen und wiederzubeleben. Dazu gehört das Recht, die vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Erscheinungsformen ihrer Kultur, wie beispielsweise archäologische und historische Stätten, Artefakte, Muster, Riten, Techniken, bildende und darstellende Künste und Literatur, zu bewahren, zu schützen und weiterzuentwickeln.

2. Die Staaten haben durch gemeinsam mit den indigenen Völkern entwickelte wirksame Mechanismen, die gegebenenfalls die Rückerstattung einschließen, Wiedergutmachung zu leisten für das kulturelle, geistige, religiöse und spirituelle Eigentum, das diesen Völkern ohne ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung oder unter Verstoß gegen ihre Gesetze, Traditionen und Bräuche entzogen wurde.

Artikel 12 nimmt dann dezidiert zur besonderen Kategorie der „sensitive materials“ Stellung. Die UNO erkennt darin das uneingeschränkte Recht indigener Völker auf ihre Ritualgegenstände sowie auf die sterblichen Überreste ihrer Vorfahren an. Sie verpflichtet die Staaten zu Verhandlungen mit den indigenen Völkern über die geeigneten Formen der Ausübung dieses Rechtes:  

Artikel 12

1. Indigene Völker haben das Recht, ihre spirituellen und religiösen Traditionen, Bräuche und Riten zu bekunden, zu pflegen, weiterzuentwickeln und zu lehren, das Recht, ihre religiösen und kulturellen Stätten zu erhalten, zu schützen und ungestört aufzusuchen, das Recht, ihre Ritualgegenstände zu benutzen und darüber zu verfügen, und das Recht auf die Rückführung ihrer sterblichen Überreste.

2. Die Staaten bemühen sich, durch gemeinsam mit den betroffenen indigenen Völkern entwickelte faire, transparente und wirksame Mechanismen den Zugang zu den in ihrem Besitz befindlichen Ritualgegenständen und sterblichen Überresten und/oder ihre Rückführung zu ermöglichen.

Obwohl weder Verstöße gegen den ICOM Code of Ethics von 2004 noch gegen die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker von 2007 sanktioniert werden können, stellen sie als soft laws wichtige Instrumente zum Schutz der Würde und des Kulturerbes von Nachfahren Kolonisierter dar. Würden sich die europäischen und nordamerikanischen Museen und Staaten an ihre weit reichenden internationalen Selbstverpflichtungen halten, müssten sie den ehemals kolonisierten Herkunftsländern und -gesellschaften Tausende von verschleppten menschlichen Gebeinen und Hunderttausende geraubter Kulturobjekte von sich aus zur Rückgabe anbieten.

Die Ethischen Richtlinien für Museen von ICOM (2010)

Die im Westen mehr als gefürchteten Konsequenzen dieser internationalen Richtlinien dürften ein Grund dafür sein, dass sich die Nationalverbände ICOM Deutschland, Schweiz und Österreich erst 2010 dazu entschlossen haben, mit den Ethischen Richtlinien für Museen eine autorisierte deutsche Übersetzung des ICOM Code of Ethics von 2004 zu veröffentlichen. In der deutschen Fassung lässt sich nun Folgendes lesen:

4.3 Ausstellung sensibler Objekte

Die Ausstellung von menschlichen Überresten und Gegenständen von religiöser Bedeutung muss unter Einhaltung professioneller Standards erfolgen und, soweit bekannt, den Interessen und Glaubensgrundsätzen der gesellschaftlichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, denen die Objekte entstammen, Rechnung tragen. Die Objekte sind mit Taktgefühl und Achtung vor den Gefühlen der Menschenwürde, die alle Völker haben, zu präsentieren.

4.4. Entfernung aus öffentlichen Ausstellungen

Wünschen betroffener Gruppen nach der Entfernung von menschlichen Überresten oder Gegenständen von religiöser Bedeutung aus der öffentlichen Ausstellung muss umgehend und mit Respekt und Sensibilität begegnet werden. Auf Anfragen bezüglich der Rückgabe solcher Gegenstände ist entsprechend zu reagieren. Museen sollen für die Beantwortung solcher Anfragen klare Richtlinien definieren.

4.5 Ausstellung von Objekten ohne Herkunftsnachweis

Museen sollten vermeiden, Gegenstände fragwürdigen Ursprungs oder solche ohne Herkunftsnachweis auszustellen oder auf andere Weise zu nutzen. Sie müssen sich bewusst sein, dass dies als Duldung und Förderung des illegalen Handels mit Kulturgütern aufgefasst werden kann.

Bei einem gründlichen Vergleich dieses 4. Teiles mit der englischen Originalfassung des ICOM Code of Ethics fallen zwei „Ungenauigkeiten“ auf. So wird hier nicht nur der geforderte „great tact and respect“ im Umgang mit „sensiblen Objekten“ auf ein schlichteres „Taktgefühl und Achtung“ reduziert (4.3.) Vielmehr wird die Gruppe von „Objekten“ selbst in einer Art und Weise beschrieben, bei der unzählige überaus bedeutsame Exponate ausgeklammert werden. Denn „materials of sacred significance“ (4.3. und 4.4.) meint  sicher mehr, als man im vergleichsweise säkularisierten deutschen Sprachraum unter Gegenständen von religiöser Bedeutung“ versteht. Mit dieser unscharfen Übersetzung wird der Eindruck erweckt, dass zum Beispiel Gegenstände von besonderer politischer Bedeutung (wertvolle Throne, Bekleidungsstücke, Zepter, etc.) nicht zu den spirituellen „Dingen mit heiliger Bedeutung“ zählen – und daher selbst auf Wunsch der Herkunftsgesellschaften nicht zurückgegeben werden müssen. 

Mag man nach einem genaueren Blick auf die autorisierte deutsche Übersetzung von Teil 4 des ICOM Code of Ethics den Verdacht gewinnen, dass hier durch Manipulation die besondere Verantwortung der Museen im Umgang mit „sensiblen Objekten“ unter den Teppich gekehrt und zahlreiche Objekte aus dieser besonderen Kategorie ausgeklammert werden, wird die Ahnung von einer tendenziösen Verfälschung der originalen Richtlinien bei der Lektüre von Teil 6 zur Gewissheit. 

So werden in der autorisierten deutschen Übersetzung von 2010 aus den (englischen) Aufforderungen zur proaktiven Suche nach Kooperationsmöglichkeiten mit den (teilweise leeren) Museen in den Herkunftsländern müde Ermahnungen und in puncto Rückgabe von „cultural property“ (das hier als neutrales „Kulturgut“ übersetzt wird) entfällt die Verpflichtung zu aktiven Kontaktaufnahmen mit den Herkunftsländern und -gemeinschaften gleich ganz. Die Selbstverpflichtung der Museen zur selbstständigen Ansprache der Herkunftsgesellschaften wird dabei umgedeutet zu einer passiven Dialogbereitschaft der Museen im (noch) seltenen Falle von Rückgabeforderungen seitens derjenigen, die zumeist gar nicht wissen (können), wohin ihre Kulturschätze einst verschleppt wurden:

6.1 Zusammenarbeit

Museen sollen den Austausch von Wissen, Dokumenten und Sammlungen mit Museen und Kulturorganisationen in deren Herkunftsländern und -gemeinschaften fördern. Die Möglichkeit des Aufbaus von Partnerschaften mit Museen in Ländern oder Gebieten, die einen bedeutenden Teil ihres Erbes verloren haben, ist zu prüfen.

6.2 Rückgabe von Kulturgütern

Museen sollen bereit sein, in einen Dialog bezüglich der Rückgabe von Kulturgütern an ihre Herkunftsländer oder -völker zu treten. Der Dialog sollte unparteiisch und auf der Basis wissenschaftlicher, professioneller und humanitärer Prinzipien sowie unter Berücksichtigung lokaler, nationaler und internationaler Gesetze geführt werden. Diese Vorgehensweise ist Maßnahmen auf politischer oder Regierungsebene vorzuziehen.

ICOM International und der Ethik-Rat ETHCOM 

Bei einer derart gravierenden Veränderung der englischen Originalfassung des ICOM Code of Ethics for Museums durch ICOM Deutschland, ICOM Österreich und ICOM Schweiz stellt sich natürlich sofort die Frage, ob ICOM International über dieses unglaubliche Vorgehen der deutschsprachigen Nationalverbände im Bilde ist. Ein kurzer Blick auf die Leitung von ICOM International und auf dessen Ethik-Rat (ETHCOM) reicht jedoch aus, um diese Frage mit Gewissheit positiv zu beantworten. Denn nicht nur ist mit Prof. Dr. Martin Hinz ein Berliner Historiker Präsident des Internationalen Museumsrates. In dem von Hinz eingesetzten Ethik-Rat finden sich neben dem Schweizer Vorsitzenden Martin Schärer auch noch drei weitere deutschsprachige Fachleute, die damit einen auffällig großen Anteil der insgesamt elf Mitglieder des Gremiums stellen (acht aus Europa, jeweils ein Mitglied aus den USA und Neuseeland, Terry Nyambe aus Sambia).

Das Ergebnis der europäischen Dominanz unter den obersten Hütern der internationalen Museumsmoral ist schockierend und geht sogar noch über die stillschweigende Duldung der manipulierten deutschen Übersetzung des ICOM Code of Ethics for Museums hinaus. Denn kein geringerer als Martin Schärer, der Vorsitzende von ETHCOM selbst, verkündete kürzlich in einem Interview mit Aya Bach von der Deutschen Welle einen Leitsatz, der dem ICOM Code of Ethics Hohn spricht: „Ich würde als Ethnologisches Museum niemals selbst aktiv werden, aber wenn Rückgabeforderungen kommen, eben die offen diskutieren […] Die Objekte sind aus Kamerun in Berlin. Wenn Kamerun die Objekte zurück will, dann soll sich doch Kamerun melden und dann kann man diskutieren…“

Die „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ des Deutschen Museumsbundes von 2013

Erst 2013 – fast 10 Jahre nach Veröffentlichung des noch immer gültigen ICOM Code of Ethics von 2004 – hat sich nun auch der Deutsche Museumsbund in der Pflicht gesehen, zu Teilaspekten der ICOM-Richtlinien Stellung zu beziehen und die „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ erarbeiten lassen. Der Titel dieser „Empfehlungen“ macht deutlich, dass es dabei keineswegs um alle im ICOM Code of Ethics benannten „sensiblen Objekte“ in deutschen Museen und erst Recht nicht um alle Objekte fragwürdigen Ursprungs und ungeklärter Provenienz geht. Thema der „Empfehlungen“ sind vielmehr ausschließlich die Überreste von Menschen aus aller Welt, deren Nachfahren nun zunehmend auch von deutschen Sammlungen die Rückgabe ihrer verstorbenen Ahnen fordern.

Denn ganz im Sinne des tendenziös ins Deutsche übersetzten ICOM Code of Ethics sind es eben nicht die deutschen Museen, die selbst aktiv werden, die Provenienz der menschlichen Gebeine in ihrem Besitz klären und Rückgaben anbieten. Vielmehr ist Deutschland in den letzten Jahren gleich mehrere Male mit beschämenden Rückgabeforderungen bzgl. menschlicher Gebeine konfrontiert worden, sodass sich die Berliner Charité als erste deutsche Institution überhaupt in der Pflicht sah, human remains nach Namibia (2011, 20 Tote), Paraguay (2012, 1 Tote) und Australien (2013, 33 Tote) zurückzugeben. Für das Frühjahr 2014 stehen weitere Rückführungen – nun auch aus der Freiburger Universitäts-Sammlung –  nach Namibia an und es ist abzusehen, dass in den kommenden Jahren mehr und mehr Menschen, Gesellschaften und Staaten die in die Tausende gehenden sterblichen Überreste ihrer Vorfahren für eine würdevolle Bestattung zurückverlangen werden.

Die Empfehlungen des Deutschen Museumsbundes sind daher keineswegs als Versuch der Durchsetzung des ICOM Code of Ethics in Deutschland misszuverstehen. Im Gegenteil: Die „Empfehlungen“ stehen vielmehr im scharfen Gegensatz zu den internationalen Richtlinien und sollen, so scheint es, den verunsicherten deutschen Mitgliedsinstitutionen versichern, dass internationale Richtlinien wie der ICOM Code of Ethics und die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker nur begrenzte Gültigkeit für sie haben. 

So werden hier Rückgaben von menschlichen Überresten an die Herkunftsgesellschaften anders als in den bedingungslosen internationalen Richtlinien an zwei Voraussetzung geknüpft: Es muss 1.) beim Erwerb ein „Unrechtskontext“ vorgelegen haben und die Gebeine sollten 2.) nicht älter als 125 Jahre sein. Die Entscheidung darüber, was als „Unrechtskontext“ zu verstehen ist, wird hier also nicht etwa in das Ermessen der Herkunftsgesellschaften und Nachfahren gelegt – vielmehr maßen sich die deutschen Museen selbst an, neben der Untersuchung auch die Bewertung des historischen Erwerbskontextes vorzunehmen.

Der Deutsche Museumsbund macht in seinen „Empfehlungen“ klar, dass der Kolonialismus – im Gegensatz zum Nationalsozialismus – nicht per se als „Unrechtskontext“ eingestuft werden kann und „die Grundlage der Sammlungen“ – selbst von menschlichen Gebeinen – „meist auf Schenkungen, Kauf und Tausch“ beruhte. Entsprechend werden die Museen gerade zu beschworen, bloß nicht – wie im ICOM Code of Ethics gefordert – allen Rückgabeforderungen ehemals kolonisierter Herkunftsgesellschaften nachzukommen:

Eine Weggabe von Eigentum und Vermögenswerten darf eigentlich nur dann erfolgen, wenn es hierfür eine rechtliche Grundlage gibt. Eine Herausgabe von menschlichen Überresten aus rein ethischen Erwägungen kann also nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen. So kann beispielsweise nicht jeder koloniale Kontext automatisch zu einer Rückgabe führen. Eine Rückgabe nach ethischen Grundsätzen kommt insbesondere in Frage, wenn menschliche Überreste in Unrechtskontexten erworben wurden, d.h. in Kontexten, die in besonders hohem Maße gegen das Gerechtigkeitsempfinden verstoßen oder unerträgliche Taten gegen die Menschlichkeit darstellen. […] Wann die Schwelle erreicht ist, die eine Rückgabe auch ohne rechtliche Grundlage notwendig erscheinen lässt, wird im Einzelfall zu entscheiden sein. (S.66)

Trotz des durchscheinenden Widerwillens des Deutschen Museumsbundes gegenüber den ICOM-Richtlinien, die den Museen klar definierte Rückgaberegeln abverlangen, kommen natürlich auch die „Empfehlungen“ nicht ganz ohne eine Definition des zur Bedingung für Rückgaben von human remains gemachten „Unrechtskontextes“ aus. So heißt es:

Fallgruppe 1

Ein Anhaltspunkt für einen Unrechtskontext im Sinne dieser Empfehlung liegt insbesondere dann vor, wenn die Person, von der die menschlichen Überreste stammen, Opfer einer Gewalttat wurde, und/oder Teile ihres Körpers gegen ihren Willen bearbeitet  und aufbewahrt wurden oder werden.

[…]

Fallgruppe 2

Ein Anhaltspunkt für einen Unrechtskontext im Sinne der Empfehlung liegt im Weiteren vor, wenn die menschlichen Überreste des oder der ursprünglichen Eigentümer(s) oder Verfügungsberechtigten, insbesondere durch körperliche Gewalt, Zwang, Raub, Grabraub oder betrügerische Täuschung, in eine Sammlung gelangt sind.

Ganz ohne Zweifel liegt schon hier eine erhebliche Einschränkung des ICOM Code of Ethics und der UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker vor, nach denen es völlig irrelevant ist, wie die Gebeine erworben oder angeeignet wurden, sobald die Nachkommen den Wunsch zur Rückgabe und würdevollen Bestattung ihrer Vorfahren äußern. Dennoch wären nach Ansicht des Deutschen Museumsbundes selbst nach diesen Einschränkungen offenbar noch zu viele, für die hiesige Forschung interessante menschliche Überreste abzugeben, sodass hier zwei weitere große Kategorien mehr oder weniger klar von der Rückgabepflicht ausgenommen werden. Zum einen betrifft das menschliche Gebeine aus Gesellschaften, „welche die Kopfjagd kannten und praktizierten“, d.h. die zahlreichen, gern präsentierten, kunstvoll bearbeiteten  „Kopftrophäen“ sollen in den Museen und Sammlungen verbleiben dürfen, auch wenn sich die Nachfahren der Getöteten für eine Rückgabe einsetzen.

Zweitens – und das ist besonders folgenreich – sollen menschliche Gebeine, die älter als 125 Jahre sind, von der Rückgabe ausgeschlossen werden, sofern nicht besondere Umstände (Genozid, Gruppenverfolgungen, etc.) dagegen sprechen, diese zu verweigern. Im Klartext bedeutet dies, dass auch der definierte, einfache „Unrechtskontext“ schon heute nicht mehr genügen soll, um eine Rückgabe von menschlichen Überresten zu rechtfertigen, wenn es sich um einen vor 1889 von deutschen Kolonialtruppen getöteten Menschen handelt. Die auf den früheren, zumeist bewaffneten Expeditionen zur Kolonisierung Amerikas, Asiens, Australiens und Afrikas angeeigneten Gebeine müssten entsprechend für eine Rückgabe nicht mehr in Betracht gezogen werden. Ab 2039 würden damit laut der Empfehlungen auch die vom deutschen Kolonialregime unrechtmäßig angeeigneten menschlichen Gebeine nur noch in Ausnahmefällen zurückzugeben sein.

Der Deutsche Museumsbund bekennt sich auf seiner Website offiziell zur Einhaltung der internationalen Richtlinien und UN-Deklarationen. Dort heißt es:

Für Deutschland gibt es keinen eigenen Codex, doch betrachten die deutschen Museen den „ICOM-Code of Professional Ethics“ von 1986/2001 bzw. 2004 Neufassung als auch für ihr Handeln verbindlich.

Die nun vorgelegten „Empfehlungen“ des Museumsbundes erfüllen jedoch nicht einmal die Auflagen der (manipulierten) deutschen Übersetzung des ICOM Codes of Ethics, geschweige denn diejenigen des englischen Originals von 2004 oder der UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker von 2007. So werden denn auf der Website des Museumsbundes auch die für die deutsche Leserschaft weniger leicht zugängliche englische Version der UN-Deklaration  und die tendenziöse deutsche Übersetzung des ICOM Codes of Ethics von 2010 als Links angeboten.

What’s in a word?

Nicht nur bei den Nachfahren Kolonisierter weckt der äußerst fragwürdige Umgang der deutschen Museen mit den ICOM-Richtlinien und ihrem originalen Wortlaut Erinnerungen an zwei besonders spektakuläre Fälle übersetzerischer Manipulation durch deutsche Verhandlungspartner. So betrog schon der Bremer Kaufmann Lüderitz die Nama von Bethanien im berüchtigten „Meilenschwindel“ von 1883 um einen Großteil ihres Landes, indem er die im Kaufvertrag genannten „miles“ nicht als englische sondern als wesentlich längere deutsche Meilen interpretierte. 

Und selbst die berühmte Rede der ehemaligen Bundesministerin für Entwicklungszusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, die 2004 in Okakarara zu den Herero und Nama sprach, ist an entscheidenden Stellen manipuliert. Den Zuhörern vor Ort wurde das Gefühl gegeben, der deutsche Genozid in Namibia wäre nun durch die Bundesregierung endlich offiziell anerkannt  und die förmliche Bitte um Entschuldigung sei erfolgt. Im beeindruckenden BBC-Dokumentarfilm „Genocide and the Second Reich“ von David Olusoga (2004) sind wesentliche Teile der Rede wiedergegeben, die klar belegen, dass die Bundesministerin dabei die folgenden Worte sprach:

Today, I want to acknowledge the violence inflicted by the German colonial powers on your ancestors, particularly the Herero and the Nama […]

The atrocities, the murders, the crimes committed at that time are today termed „genocide“ – and nowadays a General von Trotha would be prosecuted and convicted – and rightly so. […]

And so, in the words of the Lord’s Prayer that we share, I ask you to forgive us our trespasses and our guilt.

In der vielzitierten, offiziellen deutschen Version der Rede heißt es demgegenüber:

Es gilt für mich an diesem Tage, die Gewalttaten der deutschen Kolonialmacht in Erinnerung zu rufen, die sie an Ihren Vorfahren beging, insbesondere gegenüber den Herero und den Nama. […]

Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde – für den ein General von Trotha heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt würde.[…] 

Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen „Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld.

Man muss kein diplomierter Übersetzer sein um zu sehen, dass die berühmte Minister-Rede in ihrer schriftlichen Übersetzung so verändert ist, dass sie als Grundlage für evt. Reparationsforderungen durch die Nachfahren der Betroffenen kaum mehr taugt. Nicht nur wurde die explizite Anerkennung der Gewalttaten („I want to acknowledge“) als ein bloßes Erinnern an diese Verbrechen übersetzt. Die bis heute regierungsseitig nicht wiederholte Anerkennung der Geschehnisse als Genozid („are today termed genocide“) und die mit religiöser Emphase vorgetragene Bitte um Vergebung für historisch-politische Verfehlungen und Schuld („in the words of the Lord’s Prayer“) durch Wieczorek-Zeul wurden im juristisch unverfänglichen Konjunktiv („was heute als Völkermord bezeichnet würde“) und als Bitte um Vergebung für eine religiöse, nicht völkerrechtliche Schuld („im Sinne des Vaterunser“) wiedergegeben!

Wer wie deutsche Kolonialbegründer, Museumsleute und Diplomaten vor der Manipulation von Verträgen, internationalen Richtlinien und öffentlichen Reden nicht zurückschreckt, um seine Interessen zu waren, tut alles, um den nach wie vor breiten Graben zwischen Schwarz und Weiß, zwischen den Nachfahren der Kolonialisierten und denen der Kolonialisten weiter zu vertiefen. Die vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland im September 2011 bei der Rückgabe der namibischen Gebeine in der Berliner Charité von den Herero und Nama erbetene „Versöhnung“ wird sich auf derart krummen Wegen jedenfalls nicht erreichen lassen. Dazu bräuchte es auf weiß-deutscher Seite nicht nur die aufrichtige Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialrassismus von einst. Es bräuchte vor allem auch eine Dekolonisierung der mentalen und gesellschaftlichen Strukturen im Hier und Jetzt.

Christian Kopp, Berlin Postkolonial, Februar 2014