Störung der Totenruhe
Ein Interview mit Alexander von Humboldt
Herr von Humboldt, zusätzlich zur Humboldt-Universität, zum Humboldthafen, zum Volkspark Humboldthain, zur Humboldt Foundation etc. möchte die Bundesregierung nun im wieder zu errichtenden Kaiserpalast das Humboldt-Forum einrichten. Sie und Ihr Bruder werden vom Präsidenten der federführenden SPK zu Ahnherren einer vermeintlich interesselosen, vorurteilsfreien und weltoffenen Kultur und Wissenschaft in Deutschland stilisiert. Herr Parzinger schreibt: „Das gemeinsame Forum von Museen, Bibliothek und Universität trägt den Namen Humboldt, weil die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt nicht nur eng mit dem Ort verbunden sind, sondern gleichsam als Leitfiguren für das Konzept des Humboldt-Forums gelten: Wilhelm steht für die Bedeutung der klassischen Ideen- und Geistesgeschichte Europas und für das Verständnis der außereuropäischen Kulturen (…) Alexander symbolisiert die Neugier auf die Welt, eine weltoffene Beschreibung fremder Kulturen, eine Disziplinen überschreitende Erforschung Amerikas und Asiens (…) Wilhelm wie Alexander, beide prägte eine kosmopolitische Weltsicht, die auf der Gleichberechtigung der Weltkulturen basiert.“ Könnten Sie uns bitte kurz erläutern, wie Ihre spektakuläre Reise in Spaniens südamerikanisches Kolonialreich möglich wurde und wem Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen dienten?
Ich erhielt zwei Pässe, den einen vom ersten Staatssekretär, den anderen vom Rat von Indien. Nie war einem Reisenden mit der Erlaubnis, die man ihm erteilte, mehr zugestanden worden, nie hatte die spanische Regierung einem Fremden größeres Vertrauen bewiesen. (…) Ich meinerseits war bemüht, diese sich nie verleugnende Freundlichkeit zu erwidern. Ich übergab während meines Aufenthalts in Amerika den Statthaltern der Provinzen Abschriften des von mir gesammelten Materials über die Geographie und Statistik der Kolonien, das dem Mutterlande von einigem Nutzen sein konnte.(…) Da der Zweck unserer Reise ein rein wissenschaftlicher war, so hatten Bonpland und ich das Glück, uns das Wohlwollen der Kolonisten wie der mit der Verwaltung dieser weiten Landstriche betrauten Europäer zu erwerben.
Sie haben die kulturellen und natürlichen Schätze Südamerikas untersucht, dokumentiert, gesammelt – und wenn möglich auch nach Europa verschifft. In Deutschland erschien vor einigen Jahren der inzwischen verfilmte Roman „Die Vermessung der Welt“, in dem beschrieben wird, wie Sie und Ihr Gefährte Bonpland von den entsetzten Bewohner_innen des Landes sogar beim Raub menschlicher Überreste erwischt wurden. Haben Sie wirklich die Ruhe der Ahnen gestört?
Wir nahmen aus der Höhle von Ataruipe mehrere Schädel, das Skelett eines Kindes von sechs bis sieben Jahren und die Skelette zweier Erwachsener von der Nation der Atures mit. (…) Sie machten fast eine ganze Maultierladung aus, und da uns der abergläubische Widerwillen der Indianer gegen einmal beigesetzte Leichen wohlbekannt war, hatten wir die Körbe in frisch geflochtene Matten einwickeln lassen. Bei dem Spürsinn der Indianer und ihrem feinen Geruch half aber die Vorsicht leider nichts. (…) Kaum (…) hatten die guten Leute unser Gepäck angerührt, so prophezeiten sie, dass das Lasttier, „das den Toten trage“ zugrunde gehen werde. Umsonst versicherten wir, sie irrten sich, in den Körben wären Krokodil- und Seekuhknochen; sie blieben dabei, (…) und „das seien ihre alten Verwandten“. (…) Einer der Schädel, den wir aus der Höhle von Ataruipe mitgenommen, ist in meines alten Lehrers Blumenbach schönem Werke über die Varietäten des Menschengeschlechts gezeichnet; aber die Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil unserer Sammlungen an der Küste von Afrika bei einem Schiffbruch verloren, der unserem Freund und Reisegefährten Fray Juan Gonzales das Leben kostete.
Verzeihen Sie, wenn wir angesichts dessen, was man in Europa als „Leichenschändung“ bestraft hätte, auch daran zu zweifeln beginnen, dass Sie von einer „Gleichberechtigung der Weltkulturen“ ausgehen. Aber was, wenn nicht die Überzeugung von der Einzigartigkeit südamerikanischer Kunst und Kultur, hat Sie denn – neben Neugier und Ruhmsucht – auf die andere Seite des Atlantiks geführt?
In den Forschungen über Monumente, die von halbbarbarischen Völkern errichtet worden sind, liegt noch ein weiteres Interesse, das man psychologisch nennen könnte: Sie bieten unseren Augen das Gemälde des gleichförmigen Fortschreitens des menschlichen Geistes dar. (…) Welch beeindruckendes Schauspiel bietet uns der Genius des Menschen, wenn wir den Raum von den Gräbern von Tinian und den Statuen der Osterinseln bis zu den Monumenten des mexikanischen Tempels von Mitla durchschreiten; und von den unförmigen Idolen jenes Tempels bis zu den gemeißelten Meisterwerken des Praxiteles und des Lysippos! Wundern wir uns nicht über die Rohheit des Stils und die Fehlerhaftigkeit der Umrisse in den Werken der Völker Amerikas. Vielleicht frühzeitig vom Rest der menschlichen Gattung getrennt, umherirrend in einem Land, wo der Mensch lange gegen eine wilde, stets bewegte Natur zu kämpfen hatte, haben sich diese sich selbst überlassenen Völker nur langsam entwickeln können. Der Osten Asiens, der Westen und der Norden Europas zeigen uns ähnliche Phänomene.
Herr von Humboldt, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Anmerkung: Alexander von Humboldt ist tot. Die Antworten in diesem Interview entsprechen jedoch wörtlich seinen Äußerungen in: Alexander von Humboldt. Die Reise nach Südamerika. Vom Orinoko zum Amazonas. Aus dem Franz. übersetzt von H. Hauff, bearbeitet und herausgegeben von Jürgen Starbatty, Lamuv Verlag Göttingen 1990, 11. Aufl. 2010, Kap.1, S.15-16 und S.385-386 sowie in Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Aus dem Französischen von C. Kalscheuer, herausgegeben von Oliver Lubrich und Ottmar Ette, Eichborn Verlag Frankfurt/M., 2004, S.18-19.
Das Gespräch führte Berlin Postkolonial.